Elaine Leseprobe:
Kapitel 1:
Somerset Manor Mit einem lauten Knall fällt das Buch zu Boden. Ich erstarre und lausche in die Halle hinaus. Hat man mich gehört? Wird gleich jemand angerannt kommen
und mir wie so oft sagen, dass ich in Papas Bibliothek nichts verloren habe? Winzige Staubkörnchen steigen wie ein Feenreigen vom Boden empor und funkeln in der Abendsonne, die trotz der
staubigen Fenster den Raum in goldenes Licht taucht. Abendsonne? So spät ist es schon? Oje! Das Licht wird nicht mehr lange reichen, und es gibt noch viele Bücher zu sortieren. Um eine Kerze
wage ich nicht zu bitten. Papa hat klargestellt, dass er eine solche »Verschwendung« nicht duldet. Vorsichtig hebe ich das Buch auf. »Reisen in verschiedene entlegene Länder der Welt« – kommt
das auf den Stapel »Reiseberichte«? Meine Finger fahren über die geprägte Schrift auf der Vorderseite und ich lese weiter: »In vier Teilen von Lemuel Gulliver«. Das Erscheinungsjahr 1726
macht es zum neuesten Buch, das ich bisher gefunden habe. Hat unsere Familie etwa seit fast hundert Jahren kein Geld für neue Bücher ausgegeben? Wo ist es denn dann geblieben? Ich blättere
in dem Reisebericht und staune über Zeichnungen von winzigen Menschen – da! Ist das etwa ein Riese? Welche Länder der Mann, der das Buch schrieb, wohl bereist haben muss! Mein Entschluss ist
schnell gefasst. Das Buch gesellt sich zu zwei weiteren auf die Kommode neben der Tür. Ich werde es in Ruhe auf meinem Zimmer lesen. Doch zunächst an die Arbeit. Die Bibliothek ist noch nicht
einmal zur Hälfte aufgeräumt. Bei den obersten Regalen werde ich mir von unserem Dienstmädchen Victoria helfen lassen. Sie ist schon sechzehn und viel größer als ich. Sie wird sicher die
Bücher erreichen, an die ich nicht herankomme. Erst einmal die Ärmel hochkrempeln – ich will gar nicht daran denken, was Papa sagen würde, sähe er mich mit nassen Kleidern. Ich fische den
Putzlappen aus dem Seifenwasser heraus und klettere auf den Stuhl. Auf Zehenspitzen gelange ich bis an das dritte Regalbrett von oben – »Elaine! Victoria, such das vermaledeite Mädchen.
Charlotte? Charlotte! Wo treibt sich deine Tochter schon wieder herum?« Vor Schreck fällt mir der Lappen aus der Hand. Er hinterlässt einen riesigen Wasserfleck auf meiner Schürze. Mein
Vater! Ihn darf ich nicht warten lassen. Schnell nehme ich die Schürze ab und trockne meine Hände daran. Die Tür der Bibliothek schließe ich hinter mir, so leise es in der Eile nur möglich
ist, und laufe zum Weinkeller. Hoffentlich hat Papa nicht allzu viel getrunken. In nüchternem Zustand ist er kein geselliger Mensch, betrunken benimmt er sich wie unser Stallbursche, wenn
dieser aus dem Dorf zurückkehrt. Mein Blick streift zwei leere Weinflaschen auf dem Tisch sowie meinen Vater, der ungeschickt am Korken einer weiteren Flasche zerrt. Nur mit Mühe unterdrücke
ich ein Seufzen. »Da!« Er hält mir die Flasche hin. Meine geübten Finger haben bald den Korken heraus und schenken ihm nach, ohne dass es einer Aufforderung bedarf. Er nimmt einen großen
Schluck. »Und schenk dir auch was ein!« Widerwillen muss sich auf meinem Gesicht zeigen, denn er knurrt: »Und komme mir nicht mit Ausreden wie: ›Ich bin doch erst dreizehn‹, verstanden?«
»Zwölf«, murmele ich. Warum nur muss ausgerechnet heute die übliche Weinpfütze auf dem Boden fehlen, die sonst spätestens am Ende der zweiten Flasche auftaucht? Wohin soll ich nun heimlich
mein Glas ausgießen? Mir bleibt nichts anderes übrig. Vorsichtig nehme ich einen kleinen Schluck. Glasige Augen mustern mich. »Und?« Sauer und korkig, ist mein erster Gedanke. Natürlich hüte
ich mich davor, ihn laut auszusprechen. »In deiner Bibliothek gibt es ein Buch mit Anleitungen, wie man Wein verkostet. Welche Kriterien man anwendet. Dabei behält man ihn aber nur zum
Schmecken im Mund und spuckt ihn dann aus …« »Bist du des Wahnsinns, Mädchen? Den teuren Wein ausspucken? Die Somersets sind seit vier Generationen im Weinhandel tätig, da braucht es kein
neunmalkluges Kind, das zu viel liest. Solche schlauen Hinweise verbitte ich mir.« Unglaublich, er bringt zusammenhängende Sätze heraus. Mit der Pfütze wird das wohl nichts mehr. Weiter geht
es stattdessen mit der Schimpftirade: »Warst wieder in den Büchern schnüffeln, was? Ich habe deiner Mutter schon gesagt, was ich davon halte. Nicht genug, dass du den ganzen Quatsch lernen
musst, den Huntington dir vorschreibt … Na immerhin zahlt er dafür.« Im Schweigen, das folgt, höre ich leise Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich und Mama tritt ein. Sie sieht müde
aus. Am liebsten würde ich zu ihr gehen und sie umarmen, doch sie bleibt an der Tür stehen. »Verzeih die Störung, Tobias …« Ihre Stimme klingt matt. »Elaine sollte ins Bett gehen, sie hat
morgen früh Klavierunterricht.« Ein stumpfes Grunzen als Antwort. »Klavier spielen, tanzen, Naturwissenschaften … Der Teufel weiß, warum sie das alles lernen soll. Wieso mischt sich
Huntington überhaupt in ihre Ausbildung ein?« Mama ist klug genug, keine Worte zu vergeuden. Sie bringt das einzige Argument, das für meinen Vater zählt. »Er zahlt die Ausbildung.« Geduldig
warten wir beide ab. Eine unwirsche Handbewegung sagt uns, dass wir entlassen sind. »Dann sieh zu, dass sie ins Bett kommt, Charlotte. Wenn der feine Herr will, dass sie was lernt, soll sie
das wenigstens ausnutzen.« Mama schiebt mich zur Tür heraus. Sie lächelt mich an. »Milch mit Honig, Liebling? Wie jeden Abend?« Ich umarme sie und flüstere: »Ich hole noch schnell ein paar
Bücher.« In meinem Zimmer wartet Mama schon mit einem Glas Milch und einem Briefumschlag in der Hand. »Elaine, ich habe hier einen Brief von Mr. Huntington …« Jubelnd hüpfe ich aufs Bett.
»Darf ich ihn lesen, Mama? Bitte! Oh, du hast ihn schon geöffnet.« Sie nickt. »Er enthält Neuigkeiten, die ich erst mit deinem Vater besprechen musste, bevor wir dich einweihen.« Ein starker
Hustenanfall schüttelt sie. »Du bist doch nicht krank, Mama? Mr. Huntington hatte einen Arzt geschickt, richtig?« »Nein, es ist alles in Ordnung. Was ich sagen wollte: Mr. Huntington plant,
dich in sein Haus zu holen. Du sollst bei ihm leben und an seiner Akademie lernen.« »Eine richtige Schule? Mit anderen Kindern?« Meine Wangen werden heiß vor Freude. »Wie wunderbar! Wann geht
es los? Darf ich ihm gleich zurückschreiben?« Mama scheint sich nicht so recht mit mir zu freuen. Sie streichelt traurig über meinen Kopf. »In zwei Wochen schon wird er dich abholen. Du
darfst ihm schreiben, aber bleibe nicht zu lange wach. Dein Unterricht beginnt sehr früh, und du willst doch nicht, dass du hinter die anderen Kinder zurückfällst, weil du hier nicht genug
gelernt hast, oder?« Sie legt eine neue Kerze auf meinen Nachttisch. »Eine zweite Kerze?«, frage ich ehrfürchtig. »Hat Papa das erlaubt?« Sie hebt den Kopf und ein seltener Anflug von Stolz
huscht über ihr Gesicht. »Tobias hat uns genug verboten. Ich weigere mich, wegen einer einfachen Kerze um Erlaubnis zu fragen.« Sie gibt mir einen Gutenachtkuss. Als sie sich umdreht und zur
Tür geht, huscht ein trauriger Schatten über ihr Gesicht. Wenn ich nur wüsste, wie ich helfen kann! Sie kommt noch einmal zurück an mein Bett. »Du musst mir versprechen, bei Mr. Huntington
fleißig weiterzulernen. Er hat viel Gutes für unsere Familie getan. Deine Aufgabe ist es nun, etwas zurückzugeben.« Ich nicke eifrig. Sie streichelt über mein Haar, gibt mir noch einen Kuss
und verlässt mein Zimmer. Ich springe vom Bett herunter und hebe die Matratze an. Zwischen die Latten geklemmt liegt ein kleines Büchlein, dessen Leineneinband schon ordentlich abgetragen
aussieht. Ich verstecke es zusammen mit der Kerze unter meinem Kleid und ziehe vorsichtig die mächtige Türe auf. Kein Laut ist zu hören. Bestimmt ist Papa über dem Wein eingeschlafen. Ich
schleiche durch die Halle hinüber in die Küche. Victoria fährt herum, als ich an ihr vorbeihusche. »Victoria, du musst mir morgen mit den oberen Regalen helfen«, flüstere ich. Dann tapse ich
zum Dienstboteneingang und entzünde meine Kerze an der letzten noch brennenden Lampe. Draußen funkeln die Sterne an einem dunkelblauen Himmel. Eine wunderbare Nacht für den Astronomieatlas,
den Mr. Huntington mir zum achten Geburtstag geschenkt hat. Ich werde es bestimmt schaffen, auch noch die letzten vier Sternbilder zu finden, bevor ich an seine Schule komme. Dann werde ich
ihn stolz machen, genau wie ich es Mama versprochen habe.